Hallo Ihr Lieben.
Hier also noch einmal die "Deichkinder" aus meiner Feder. Diese Geschichte hat Platz 4 von 30 bei einem Autorenwettbewerb belegt. Natürlich freut mich dieser Umstand, zumal ich nicht unbedingt damit gerechnet hatte.
Mittlerweile habe ich einige Kurzgeschichten zusammengetippt. Mal sehen, wie es damit weitergehen soll, denn so ein Schulterklopfen motiviert unheimlich ;)
Und hier nun ( obwohl einige die Geschichte noch kennen sollten ):
DEICHKINDER
„…soll der Deich halten,
muss was Lebiges rein.“
Der Schimmelreiter
von Theodor Fontane
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Amtliche VORWARNUNG zur Unwetterwarnung vor ORKANBÖEN
für den Landkreis Nordfriesland gültig von Mittwoch, 01.11.06, 00:00 Uhr bis Mittwoch, 01.11.06, 15:00 Uhr,ausgegeben vom Deutschen Wetterdienst am Montag, 30.10.06, 21:40 Uhr.
In der Nacht zum Mittwoch kommt Nordweststurm auf, wobei an der Küste Böen um 130 kmh (Bft 12) erwartet werden (Mittelwind um Bft 9). Mittwochnachmittag nimmt der Sturm wieder ab. Dies ist ein erster Hinweis auf erwartete Unwetter. Er soll die rechtzeitige Vorbereitung von Schutzmaßnahmen ermöglichen. Die Prognose wird voraussichtlich am Dienstagvormittag konkretisiert. Bitte verfolgen Sie die Wettervorhersagen mit besonderer Aufmerksamkeit.
DWD RZ Hamburg
„Es muss getan werden“, dachte sie. „Henning wäre noch am Leben, wenn es damals getan worden wäre. Frerk muss leben. Darum tue ich es. Für Frerk. Und auch für Henning.“
Die eiskalten Regentropfen prickelten wie Kristalle. Ihre durchnässte Kleidung konnte sie nicht wärmen, und der tosende Wind peitschte ihr das lange, nasse Haar ins Gesicht. Aber das interessierte sie nicht. Mit einem kräftigen Tritt stieß sie im schwachen Licht der Lampe den Spaten in das Gras. Sie hatte die Größe vorher gut abgeschätzt und die Sode entsprechend abgestochen. Zwei Spaten breit und fünf Spaten lang. Eine Arbeit, die sie schon einmal getan hatte. Hatte tun müssen. Genau an dieser Stelle. Vor ein paar Jahren, als das Unheil vor der Tür stand. Und heute musste der Bund erneuert werden. Für Frerk. Und auch für Henning.
Wasser lief den Hang herunter und begann sich in der dreieinhalb Spaten tiefen Grube zu sammeln. Als sie Widerstand spürte und ein Knacken hörte, grub sie etwas schräg, um Raum für die braune Sporttasche zu schaffen, die sie einen Schritt neben sich abgestellt hatte. Sie hielt inne und schaute die Tasche an. Hatte sie sich bewegt? Oder war es der Sturm, der auch an ihrer Kleidung zerrte? Entschlossen hob sie noch drei Schaufeln aus und stieß den Spaten in den braunen Haufen Erde neben der Grube.
Die Tasche war leicht. „Nicht mehr als eine Tragetasche vom Kaufmann. Ein Liter Milch, ein Pfund Kartoffeln, eine anderthalb Liter-Flasche Cola für Frerk“, überlegte sie, als sie die Tasche vorsichtig in die Grube senkte. Sie verharrte einen Moment in Stille.
„Für Henning, den ich liebte und der mir genommen wurde. Für Frerk, den ich liebe und den man mir nicht nehmen wird. Hier wird er nicht eindringen. Hier nicht. Dafür habe ich gesorgt.“
Sie nahm den Spaten in die Hand und schaufelte mit kräftigen Bewegungen die Erde zurück in das Loch. Dann nahm sie die ausgestochene Sode und platzierte sie genau dort, wo sie vor nicht einmal 30 Minuten gelegen hatte. Niemand konnte jetzt erkennen, dass an dieser Stelle gegraben worden war.
Sie kletterte den Hang hinauf. Immer wieder rutschte sie auf dem nassen Boden aus und krallte sich im Gras fest. Oben, auf dem Scheitelpunkt, erfasste sie der Orkan mit aller Macht. Sie stemmte sich gegen die Böen und blickte auf das Meer hinaus. Schwarzviolettes Wasser bildete braune Schaumkronen. Sie tanzten einen schaurigen Tanz zur grausamen Melodie des Orkans. Und dicht unter der Oberfläche lauerte noch etwas anderes. Etwas Geheimnisvolles, etwas Teuflisches. Er war gekommen. Er wartete da draußen. Der Blanke Hans stand vor der Tür und verlangte Einlass.
„Nein“, schrie sie dem Sturm entgegen und schüttelte die erhobene Faust. „Hier kommst du nicht herein! Du wirst Frerk nicht bekommen! Nicht, so lange ich lebe!“ Ihre Tränen mischten sich mit dicken salzigen Regentropfen. „Nicht, so lange ich lebe!“
Aenne riss mit ruhiger Hand das Streichhölzchen an, obwohl ihr der Aufstieg unter das Dach heute Abend arge Mühe bereitet hatte und sie vor Anstrengung schwer atmete. Sie kam hierher, seit sie denken konnte. Abend für Abend, Jahr für Jahr. Sie hatte diesen Brauch von ihrer Mutter übernommen, wie diese ihn auch von ihrer Mutter, Aennes Großmutter, übernommen hatte. Traditionen waren schon immer wichtig in ihrer Familie.
Sie entzündete den ölgetränkten Docht der alten Lampe, drehte ihn ein Stück zurück und betätigte den kleinen Hebel, der das fast zweihundert Jahre alte polierte Glas schützend über die offene Flamme senkte. Dann richtete sie die Lampe in der Mitte des kurzen Fensterbretts aus, welches zum kleinen dreieckigen Giebelfenster des alten Backsteinhauses gehörte.
Sie lebten hier in der vierten Generation. Ihre Vorfahren hatten dieses Haus gebaut, direkt hinter dem Deich. Gebaut aus roten Backsteinen, mit kleinen, tiefen Fenstern und einem weit nach unten gezogenen Dach, damit man den grausamen Stürmen trotzen konnte. Gebaut für Männer, die Fischer waren. Für Fischer, die Töchter von Fischern heirateten, die wiederum Söhne gebaren, die Fischer wurden, und Töchter, die Fischer heirateten. Ein endloser Reigen, der sich Generation um Generation fortsetzte. Und alle Töchter stellten das Licht bei anbrechender Dunkelheit in das kleine Giebelfenster, damit die Männer auf See zu ihnen zurückfanden. Das taten sie, bis sie selbst eine Tochter hatten, die ihnen diese Pflicht abnahm. Menschen, mit Salzwasser getauft und vom Sturm gestreichelt.
Sie schaute aus dem Fenster über das kleine Stück Gemüseland und den schrägen Hühnerstall. Dann hob sie den Blick, über die Deichkrone hinweg, auf das graue, aufgewühlte Wasser der See. „Es gibt Sturm“, dachte sie und fasste an ihren runden Leib, der neues Leben barg. Die Gischt wurde schon vom starken Wind über den Deich getragen und lag wie dunkler Schnee auf dem braunen Boden. Etwas ließ Aenne schaudern. Sie spürte etwas. Sie spürte es, wie alle Menschen der Küste es spürten. Sogar das ungeborene Leben in Aennes rundem Bauch trat verzweifelt mit seinen Beinchen, weil die Angst durch den schützenden Leib der Mutter zu ihm drang. Besorgt drehte sie sich ab und kletterte die Stiege hinunter.
Henning saß in seinem alten Lehnstuhl am Holzofen. Er las gerade noch einmal die letzten Artikel der gestrigen Zeitung. Als Aenne mit einem Teepott durch die niedrige Tür kam, schaute er auf und lächelte sie an.
„Aenne!“
„Ich hab dir einen Pott gebrüht. Nur ein Kluntje, ohne Sahne, einen kleinen Tropfen Rum.“
„Danke, Liebling“, sagte Henning und nahm den Pott entgegen, den Aenne ihm, mit dem Henkel voran, reichte, damit er sich nicht die Finger verbrannte. Er legte die Zeitung neben den Stuhl und griff nach Aennes Hand.
„Kommt hier mal her, ihr zwei! Ich muss doch mal eben nachsehen, wie es euch geht“, sagte er und stellte den heißen Becher auf die Zeitung neben sich. Er umfasste Aennes kräftige Hüften und zog sie ganz dicht an sich. Dann legte er sein Ohr an ihren Bauch und lauschte dem werdenden Leben. Er schloss die Augen und lächelte.
„Wer auch immer du bist, da drinnen. Ich bin dein Vater, und ich gebiete dir, sofort damit aufzuhören, mich an den Kopf zu treten“, versuchte er mit strenger Stimme zu sagen. Dabei zwickte er Aenne, dass sie quietschte und sich lachend zu befreien versuchte. Er hielt sie fest und schaute zu ihr auf. Aennes Gesicht hatte sich leicht gerötet und sie lächelte. Es war das Lächeln, das er nur zu gut kannte und das er liebte wie sonst nichts auf der Welt.
„Hast du der Hebamme Bescheid gesagt? Es kann jetzt jederzeit losgehen…“
„Dummer Fischkopp“, lachte sie, „ich bin die Hebamme hier. Aber ich hab Gertrud von drüben schon vorgewarnt. Sie sagt, das geht schon klar.“
„Gertrud? Meinst du nicht…“
„Gertrud hat fünf Kinder zur Welt gebracht. Man kann davon ausgehen, dass sie ein wenig darüber weiß. Und, abgesehen davon, ich bin ja schließlich auch noch da. Da kann ja nichts schief gehen, oder?“ Sie rubbelte ihm seine Haare kraus, beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn zärtlich auf den Mund.
„Wird schon, Henning. Mach dir mal keine Sorgen.“
Aenne hatte sich an den kleinen Tisch gesetzt und faltete gewaschene Windeln und Babykleidung, die sie in kleinen Häufchen vor sich aufreihte. Aber ihre Gedanken wanderten immer öfter über die Deichkrone.
„Henning?“
„Hmm…?“ Henning schaute zu ihr hinüber.
„Ich glaube, du solltest noch mal hochgehen.“
„Warum, Schatz?“ fragte er und versuchte durch das Butzenfenster nach draußen in die Dunkelheit zu blicken.
„Ich glaube, da kommt was an. Ich hab vorhin durch das Fenster geschaut. So etwas habe ich schon lange nicht mehr gesehen.“
„Hast du deinen Ahnen wieder heimgeleuchtet? Ich bin doch heute an Land. Oder gibst du einem heimlichen Freund Signale?“
„Henning, bitte!“, sagte sie ernst und schaute ihm in die Augen.
„Na, dann will ich mal raus und gucken. Die Schindeln klappern ja schon kräftig, und der Wind ist ganz schön aufgefrischt. Man könnte es schon fast einen Sturm nennen.“ Er grinste schelmisch und wiegte sich wie ein Bäumchen im Wind hin und her.
„Henning?“ Dieses Mal war Aenne todernst, und der Klang ihrer Stimme ließ das Lächeln auf Hennings Gesicht einfrieren.
„So ernst?“, fragte er. Er hatte die Warnung des NDR gehört, aber so dramatisch war sie nicht gewesen.
„Schau selbst. Ich glaube, es wird was geben.“
Henning zog sich rasch die Gummistiefel über, schlüpfte in den dicken Wollpullover und griff nach der grünen wasserdichten Öljacke mit dem gelben Leuchtstreifen auf dem Rücken. Sein Gesicht hatte einen harten Zug angenommen. Jeder, der mit der See aufwuchs, erkennt den Moment, wo Gefahr in Verzug ist. Auch ihm war über den Tag komisch gewesen, und er fühlte dieses Quäntchen innere Unruhe, wenn etwas Entscheidendes geschieht. In Bezug auf das Wasser hatten hier alle einen sechsten Sinn. Und der schlug jetzt auch bei ihm eindringlichst Alarm.
Aenne musste kräftig an der Tür drücken, um sie hinter ihm zu verschließen. Henning stemmte sich gegen den Sturm Richtung Deich, und nach wenigen Schritten sah sie nur noch die schaukelnde Laterne, deren gelber Schein die fliegende Gischt und die vereinzelten dicken Regentropfen in golden glitzernde Kometen verwandelte.
Henning spürte schon nach wenigen Schritten, dass etwas nicht in Ordnung war. Seine Füße patschten in dem fingerhoch stehenden Wasser. Er beugte sich hinunter und benetzte seine Hand. Vorsichtig leckte er das Nass von einem Finger. Salz! Er probierte noch einmal. Der Sturm dröhnte in seinen Ohren und riss an seiner Jacke. Im kargen Schein der Lampe versuchte er, sich umzusehen. Wasser, überall Wasser.
„Himmel, der Deich. Wäre ich doch schon früher mal hochgelaufen“, dachte er. Er schaute zurück zum Haus. Dann rannte er zum Deich, kletterte, immer wieder auf dem durchtränkten Gras ausrutschend, die Schräge hoch. Als sein Kopf die Deichkrone erreichte, riss der Sturm an ihm und drohte ihn zurückzuwerfen. Gerade so, als wolle er nicht sein Geheimnis preisgeben, das er in der tosenden Finsternis verbarg. Und dann sah er, was hinter dem Deich war.
Nur wenig blieb noch, bis das kochende Wasser über den Deich kommen würde. Es war schon viel näher, als er erwartet hatte. Wellen schwappten auf den schmalen Inspektionsweg. Salzwasser drang aus dem Rasen an der Innenseite des Deichs und ergoss sich in kleinen Bächen auf den Zuweg zum Haus und Aennes Gemüsebeete. Henning starrte entsetzt auf das Szenario, dann drehte er sich um und rutschte den Hang hinunter. Jetzt traten vereinzelte Wasserfontänen aus, die von Sekunde zu Sekunde größer wurden.
„Aenne! Aenne! Der Deich…!“
Henning schrie, rutschte, überschlug sich und rutschte wieder. Er schmeckte Salzwasser und Blut. Ein dumpfes Gurgeln übertönte das Brausen des Orkans. Noch mehr Salzwasser um ihn herum.
„Aenne!“, versuchte er das Tösen zu durchdringen. Immer wieder „Aenne!“
Dann erfasste ihn eine Welle schwarzen, mit Erdreich durchsetzten Wassers. Haltlos wurde er fortgetragen, Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Prustend und spuckend tauchte er auf.
„Aenne…!“
Aenne saß erschöpft gegen die Giebelwand gelehnt. Vor nicht einmal einer Stunde hatte sie ihren Sohn auf dem Spitzboden des Hauses zur Welt gebracht. Sie betrachtete das Neugeborene im Halbdunkel. Mit geschlossenen Augen lag der kleine Frerk an ihrer Brust und ahnte nichts von dem Chaos und dem Leid, das die Welt um ihn herum beherrschte. Sie hatte mit geübten Handgriffen getan, was zu tun war. Sie achtete nicht auf die eigenen Schmerzen, sondern hatte sich auf die Arbeit als Hebamme konzentriert. Nun war alles überstanden, und Aenne konnte sich einen Moment der Ruhe gönnen.
Nicht viel hatte gefehlt, und Aenne wäre in der Stube ertrunken. Die brodelnde schwarze Wasserwand hatte das kleine Haus getroffen und zwei der drei Fenster eingedrückt. Auch an der Tür drang Wasser ein und füllte in Sekundenschnelle den kleinen Raum. Aenne hatte gerade noch die schmale Stiege nach oben erreichen können. In panischer Angst hastete sie die Stufen hinauf, das schnell steigende Wasser nur wenige Zentimeter hinter sich. Dann kletterte sie die Leiter zum Spitzboden hoch, wo sie am frühen Abend die Lampe angezündet hatte. Nun waren sie gefangen und würden unweigerlich ertrinken, wenn das Wasser weiter so schnell stieg. Dicht unter der kleinen Bodenluke schwappte schon die ölige, schwarze Flüssigkeit, und die aufgeschwommenen Möbel und Einrichtungsstücke der Kammer unter ihr klopften gegen die Decke. Nach unten war der Weg versperrt, und das Dach war fest und gut gebaut. Es würde für sie kein Entkommen geben, wenn das Wasser über das Fensterbrett stieg.
Das Wasser stieg nicht mehr. Aenne hatte sich und das Baby in Decken gehüllt, von denen es auf dem Boden genug gab. Auch eine Flasche Limonade und zwei Schachteln Spekulatius vom letzten Weihnachten hatte sie gefunden. Irgendwann war sie eingeschlafen, aber der kleine Frerk hatte sein Recht gefordert und sie hungrig geweckt. Aenne dankte Gott, dass sie diese Prüfung heil überstanden hatte, und hoffte, dass auch Henning noch am Leben war. Jetzt, in der frühen Dämmerung des neuen Tages, warf sie einen Blick durch das Fenster und sah nichts als Wasser. Der Deich war auf mehr als hundert Schritt gebrochen und ließ das Wasser ungehindert in das Land fließen. Gertruds Hof war nicht zu sehen, und nur die Krone des alten Apfelbaums ließ erahnen, wie hoch das Wasser stand. Aenne lehnte sich wieder zurück und versuchte, noch ein wenig zu schlafen.
Sie wurde von Rufen geweckt. Aufgeregt löschte sie die Lampe, stellte sie auf den Boden und öffnete das kleine Fenster.
„Hallo, hierher!“ Aenne schrie, so laut sie konnte. Auch das Baby schrie, aber sie achtete nicht darauf. Sie kletterte halb aus dem Fenster und streckte sich. Das Wasser war so nah, dass sie es hätte berühren können.
„Hallo…! Hier sind wir!“ Aenne suchte die Gegend ab und rief noch einmal.
„Hierher!“
Ein kleines Ruderboot kam direkt auf sie zu, und die zwei Männer darin winkten.
„Hättest du das Licht nicht angehabt, wären wir erst gar nicht hergekommen. Hier ist doch nichts mehr.“, sagte einer der Ruderer.
„Halt aus, wir sind gleich da!“
„Gott sei’s gelobt“, sagte Aenne und stieg wieder zurück, um Frerk und ihre Habe zu holen.
Sie zwängte sich durch das kleine Fenster und wurde von vier starken Armen in das Boot gezogen. Erst jetzt wagte sie, ihren Blick über die überflutete Gegend gleiten zu lassen. Bis zum alten Deich war alles unter Wasser. Gertruds Kuh schwamm aufgebläht und mit herausgetretenen Augen keine hundert Meter entfernt auf den kabbeligen Wellen. Möbel, Bäume und dicke Äste, totes Vieh und anderes Treibgut dümpelten auf dem Wasser und gaben einen Eindruck dessen, was in der vergangenen Nacht passiert war.
Und dann sah sie ihn. Er hing mit einem Bein in den Ästen der alten Eiche verfangen und mit dem Kopf unter Wasser. Seine Jacke mit dem Leuchtstreifen war heruntergerutscht und sie erkannte, dass sich seine Haut am Rücken bläulichgrau verfärbt hatte. Vier kräftige Männerhände mussten eisern zupacken, um die schreiende Aenne im Boot zu halten und zu verhindern, dass es umkippte. Zwei ruhige und erfahrene Stimmen redeten auf Aenne ein und versuchten, sie zu beruhigen. Ein kleiner schreiender Säugling schaffte es, dass Aenne in sich zusammensank und die Welt um sich vergaß.
Sie wollte in drei Monaten ein kleines Fest ausrichten. Frerks fünfundvierzigster Geburtstag und ihr endgültiger Ruhestand nach mehr als 45 Dienstjahren waren schon etwas Besonderes. Ein paar Freunde und auch die Verwandtschaft sollten dabei sein. Daran musste sie denken, als sie in die Stube kam. Sie hatte schnell geduscht, sich das Salzwasser und die Erde abgewaschen und trockene Kleider angezogen. Ihre heutige Schicht hatte sie ein wenig früher beendet und stand nun vor Frerk und betrachtete ihn liebevoll. Zärtlich strich sie ihm über den Kopf, als er sie aus dem Rollstuhl anschaute.
„Hallo, Frerk, mein Liebling, hast du deine Medizin genommen?“, fragte sie ihn.
„Ja, Mama. Aber meine Cola ist alle.“
„Warte, ich hole dir eine neue.“
Als sie die Küche betrat, schaute sie automatisch in die Ecke neben dem Schrank, wo Krömel, Frerks kleiner Mischlingshund, seine Näpfe stehen hatte. Beide waren seit dem Mittag unberührt. Sie schob mit einer Gabel das restliche Futter in den Abfall und kippte das Wasser aus. Dann wusch sie die Näpfe sauber und stellte sie zum Trocknen auf die Spüle.
Sie schaute aus dem Fenster und dachte einen Moment nach. Schließlich ging sie zur Hintertür und schob mit einer raschen Bewegung den Riegel vor die Hundeklappe, die im Wind hin und her schwang. Zuletzt nahm sie die Hundedecke auf, betrachtete sie einen Moment, rollte sie zusammen und legte sie auf den Abfalleimer.
Erst jetzt erinnerte sie sich an Frerks Cola. Sie nahm eine neue Flasche aus dem Kühlschrank, goss ein frisches Glas voll und ging zurück in die Stube.
Der Orkan blies zunehmend stärker, und die Schindeln auf dem Dach klapperten laut und vernehmlich. Der Holzofen pfiff, und der Messingklopfer an der Tür pochte rhythmisch.
„Mama, ist das wieder ein schlimmer Sturm?“
Aenne hatte den ganzen Nachmittag die Radiowarnungen verfolgt.
„Ein ganz schlimmer, Frerk. Aber du brauchst keine Angst zu haben.“
„Ich habe keine Angst“, sagte Frerk. Er schaute aus dem Fenster und nippte am Glas. „Ist Krömel noch draußen?“
„Ja, er ist da draußen.“
„Krömel wird Angst haben, Mama. Hotte hatte damals auch Angst und ist weggelaufen.“
„Nein, Frerk. Krömel geht es gut. Das weiß ich.“ Sie schaute aus dem Fenster Richtung Deich, der in der Dunkelheit kaum zu erkennen war.
„Ist oben das Licht an, Mama?“
„Ja, Frerk. Ich habe es angemacht. Nun finden alle wieder heim.“
„Gut, Mama. Alle finden wieder heim. Krömel findet auch wieder heim.“
Er schaute in sein Glas, trank einen Schluck und runzelte die Stirn.
„Mama, musst du heute noch weg?“
„Ich glaube nicht. Wenn die Station heute Nacht ein Problem hat, ist da ja noch der Notdienst. Ich habe bis Freitag frei. Sie werden schon ohne mich auskommen. Ich arbeite doch eh nur noch vier Tage die Woche. Und ab nächsten Februar höre ich ganz auf.“
„Das ist schön, Mama. Ich freue mich, dass du dann immer da bist.“ Er lächelte sie an.
„Ich freue mich auch, Frerk“, sagte sie, setzte sich in Hennings alten Lehnstuhl und schloss einen Moment vor Müdigkeit die Augen.
Sie hörte dem Brausen des Sturms zu und stellte sich die wilde See hinter dem Deich vor. Dann blickte sie zu Frerk hinüber. Hennings Sohn. Hilflos und tumb an den Rollstuhl gefesselt, weil ein Betrunkener auf der Küstenstraße den siebenjährigen Frerk auf seinem Kinderfahrrad mit dem gelben Wimpelchen nicht wahrgenommen hatte. Vor Betrunkenen konnte sie ihn nicht schützen. Aber er würde nie das Schicksal Hennings teilen. Sie wusste, was zu tun war. Und sie hatte es getan. Für Henning. Und für Frerk.
Herbststurm über Nordseeküste
Berlin- Der erste schwere Herbststurm dieses Jahres mit Spitzengeschwindigkeiten von 156 Stundenkilometern ist über die deutsche Nordseeküste hinweggefegt. Der Orkan richtete am Mittwoch nach Angaben der Polizei erhebliche Schäden an. Experten sprachen von einer der schwersten Sturmfluten der vergangenen 100 Jahre. Vor der Nordseeinsel Borkum kenterte ein niederländischer Seenotkreuzer. Vier Männer wurden zeitweilig vermisst. An der Ostsee wütete der Sturm weit weniger heftig. Der Deutsche Wetterdienst hob am Vormittag seine Unwetterwarnung auf. Weltspiegel 01.11.2006
„Aenne, hast du schon gehört?“, fragte die Oberschwester gleich am Freitagmorgen. „Das ist ja wohl ein Ding. Die Drogenzicke von Dreizehn, die wir letzten Dienstagabend rausgeworfen haben, hat ja wohl nicht alle beisammen.“
Aenne setzte die heiße Teetasse ab und schaute ihre Kollegin fragend an.
„Stell dir das mal vor! Behauptet die doch tatsächlich, ihr Kind wäre weg. Ich hätte doch gleich das Jugendamt anrufen sollen. Die ist doch total dada.“ Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
„Naja, die Polizei war auch da. Aber bei uns ist alles in Ordnung, und die Papiere stimmen. Da ist nichts dran zu nöckeln. Bei uns nicht.“ Sie verschränkte die Arme über ihrer großen Brust und lehnte sich demonstrativ zurück.
„Wer weiß, was die mit dem Kind gemacht hat. Die hat sich doch bestimmt gleich dicht gedröhnt! Die war doch bestimmt gleich weggetreten, schwör ich dir.“ Sie schlug mit ihrer kräftigen Hand auf die Tischkante, dass der Tee in Aennes Tasse überschwappte.
„Na, und wenn schon“, prustete sie weiter. „So eine dürfte nie Kinder in die Welt setzen. Wenn das Würmchen tatsächlich bei einer anderen gelandet ist, ist es vielleicht auch besser so. Überall wird es ihm besser gehen als bei dieser blöden Drogentante.“
Aenne schwieg. Was sollte sie auch dazu sagen. Sie war bei der Entbindung des kleinen sechs Pfund leichten Mädchens dabei gewesen und kannte die Frau. Kaum vierundzwanzig Jahre alt und drogenabhängig. Der Vater saß irgendwo im Gefängnis. Ein Schicksal unter vielen. Ein nutzloses kleines Leben ohne Zukunft. „Ob man das Kind finden wird?“, fragte sie sich.
„Es ist ja nicht so, wie Januar 76. Da war hier ja die Hölle los. Erinnerst du dich? Da sollte doch die Klinik evakuiert werden wegen des Sturms. Wenn der Deich da gebrochen wäre, wären wir ja alle abgesoffen wie 1962. Weißt du noch, da war doch auch ein Kind von der Dreizehn weggekommen. Das haben die ja nie aufgeklärt, wo das hingekommen ist. Möller oder so hießen die“
„Möhlenkamp. Elfi Möhlenkamp. Und es war ein Junge, 47 Zentimeter, 3290 Gramm“, sagte Aenne mechanisch.
„Ach ja?“ Die Oberschwester schaute sie verdutzt an. „Ach, ist ja auch egal“ Sie stand auf und nahm das Tablett mit den Medikamenten in die Hand. „Ich würde ja was drum geben, wenn ich wüsste, wo das Kind damals abgeblieben ist“
Aenne schaute versonnen auf ihre schlanken Hände. Dann lächelte sie und nahm den Stapel Patientenberichte vom Tisch.
„Ich habe noch nichts für Frerk zu Weihnachten. Ich sollte mir langsam mal was überlegen. So viele freie Tage habe ich ja nicht mehr bis dahin… Ich muss mal sehen, ob Gertrud einen ihrer Welpen abgibt. Vielleicht den kleinen hellbraunen?“, dachte sie, als sie auf den neonbeleuchteten Gang hinausging. Sie schaute auf die große Uhr über dem Eingang. Noch siebeneinhalb Stunden. Dann konnte sie wieder nach Hause fahren. Nach Hause zu Frerk in das kleine Backsteinhaus mit dem weit heruntergezogenen Dach direkt am sicheren Deich.